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Spitzentechnologie Künstliche Intelligenz

Ein Interview mit Dr. Stefan Ebener

Spitzentechnologie Künstliche Intelligenz

Johanna Vogel  07.07.2022

Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI, oder auch artificial intelligence, AI) ist aus unserer Welt kaum noch wegzudenken. War er früher noch ein fernes Zukunftskonstrukt, so ist er heute ein in Medien, Arbeitswelt und Gesellschaft viel diskutiertes Thema. Wie kann man KI kurz und knapp erklären? In welchen Bereichen gibt es großes Potenzial und wo Grenzen?  Diese Fragen beantwortet uns KI-Experte Dr. Stefan Ebener.

In drei Sätzen kurz und knapp: Was ist KI?

Ein inflationär verwendender Begriff der maschinellen Intelligenz, die die menschliche Rasse in allen denkbaren Lebenssituationen unterstützen soll oder auslöschen wird. Lässt man für einen Moment die emotionale Komponente, die durchaus von großer Erwartung über Hoffnung bis hin zu Angst geprägt ist, außen vor, beschäftigt sich Künstliche Intelligenz mit Methoden des Problemlösungsverhaltens, welches beim Menschen eine gewisse Intelligenz voraussetzt. Das Forschungsfeld der KI ist heute sehr breit gefächert und umfasst u.A. die Wissensrepräsentation, Sprache aber auch Roboter oder kognitive Systeme. Durch die sehr breite Auslegung der Definition einer KI hat sich der Begriff in den vergangenen zwei Jahren zu einem Hype-Wort entwickelt und wird heute gern als Marketing-Buzzword bzw. zur Verkaufsförderung eingesetzt. Stichwort: „AI-enabled“

Künstliche Intelligenz ist in sehr vielen Bereichen einsetzbar. In welchem sehen Sie persönlich besonders viel Potenzial?

KI hat das Potential alle Branchen – seien sie noch so analog – zu revolutionieren. Von Gesundheit über Produktion, Finanzen, Einzelhandel, Versicherung bis hin zu den Medien, um nur einige zu nennen. Welche dabei das größte Potential besitzt, liegt am Betrachtungswinkel. Im Retail kennen dank hochindividualisierte Produktempfehlungen die Fantasien der Handelsketten hinsichtlich Up- und Crosssell keine Grenzen mehr. Auch individuelle Preise im stationären Einzelhandel sind plötzlich denkbar. In der Logistik ermöglicht KI Real Time Fleet Tracking, neue Möglichkeiten Gefahrstoffe zu überwachen und im Gesundheitssektor gibt es bereits Lösungen zur Diabetis-Vorhersage oder gar der individuellen Krankheitsanalyse basierend auf DNA-Sequenzierung. Wirft man einen Blick auf die großen Themen unserer Zeit und unserer Gesellschaft,begleitet durch eine stetig zunehmende Geschwindigkeit des Wandels, so hat das Gesundheitssystem vielleicht mitunter das größte Potential, das u.A. durch KI adressiert werden kann. Denn, die Gesundheitsversorgung und damit einhergehend die gesamte Gesundheitsbranche steht vor einer der größten Transformationen in Jahrzehnten. Die Branche verändert sich vom “Erkennen und Kompensieren” hin zum „Vorhersagen und Vorbeugen“. Diese Veränderung stellt den Ausgangspunkt eines Paradigmenwechsels dar, der beinahe jeden Aspekt der Gesundheitsbranche beeinflussen wird. Makler*innen, Verbraucher*innen, Finanzintermediäre, Versicherer und Lieferanten adaptieren fortschrittliche Technologien immer schneller und versuchen, Teil der Ökosysteme im Gesundheitssystem zu werden bzw. diese weiter aufzubauen. Die erfolgreiche Transformation der Gesundheitsversorgung in ein dezentrales, datengetriebenes und vor allem patientenzentriertes Versorgungsmodell bedingt den Einsatz radikal neuer Technologien. Die Cloud und Künstliche Intelligenz bilden dabei ein wichtiges technologisches Fundament, um alle relevanten Akteure schnell, effizient und vor allem sicher zu vernetzen.

Wie wird KI in der Medizin eingesetzt?

Das Potential der Künstlichen Intelligenz für die Gesundheit der Weltbevölkerung und jeden einzelnen lässt sich schon heute an weiteren Beispielen im klinischen-, ambulanten- aber vor allem auch im privaten präventiven Bereich erahnen. So hat bspw. die Emory Universität ein KI-Modell zur Sepsis Früherkennung entwickelt, welches mit einer 85% Genauigkeit das Auftreten von Sepsis vier bis sechs Stunden vor Beginn vorhersagen kann. Dazu werden die Gesundheitsdaten von Patient*innen in intensivmedizinischer Betreuung in Echtzeit überwacht. Sepsis ist eine Autoimmunreaktion auf eine Infektion und eine der tödlichsten und teuersten Erkrankungen, die in US-Krankenhäusern behandelt werden und von denen jedes Jahr etwa 750.000 Amerikaner betroffen sind. Zwischen 28 und 50 Prozent dieser Menschen sterben – weit mehr als in den USA an Prostatakrebs, Brustkrebs und AIDS zusammengenommen. In Deutschland stellt die Sepsis die dritthäufigste Todesursache dar. Der von der Emory University umgesetzte Ansatz basiert auf den anonymen elektronischen Gesundheitsakten von 30.000 Patient*innen, die auf der eigenen Intensivstation gesammelt wurden. Neben Vitalparametern, Patientendaten und Laborergebnissen werden insgesamt 65 relevante Variablen analysiert. Das System verwendet die kontinuierliche Überwachung des Datenstroms eines Patient*in in Fünf-Minuten-Intervallen, um einen Echtzeit-Score zur Sepsis Wahrscheinlichkeit zu erstellen. Dies hilft dem medizinischen Personal zu beurteilen, wann eine Behandlung mit Antibiotika am effektivsten ist. Im ambulanten aber auch im klinischen Bereich wird medizinisches Personal vielerorts schon heute durch KI-gestützte Systeme unterstützt. Besonders hervorzuheben ist die Analyse neuartiger Muster in digitalen Pathologiebildern. So hat es sich bspw. die American Cancer Society zur Aufgabe gemacht unter Zuhilfenahme von KI, die Welt von Krebs zu befreien, indem sie aktiv forscht, Forschungen finanziert, Experteninformationen teilt und Patient*innen in der Behandlung unterstützt. Konkret wurde dazu ein Modell für die Bildanalyse von Gewebescans entwickelt, welches frühzeitig Krebsindikatoren aufdeckt. Die American Cancer Society ist damit in der Lage Bildanalysezeiten zwölf Mal so schnell bei einer verbesserten Qualität und Genauigkeit u.A. durch die Beseitigung menschlicher Einschränkungen, Ermüdung und Voreingenommenheit umzusetzen. Im präventiven Bereich hat Google vor kurzem das erste kostenlose und frei verfügbare Medizinprodukt der Klasse I für Verbraucher in der EU zugelassen. Die KI-betriebene Dermatologie-App analysiert Fotos der Haut des Nutzers und vergleicht diese mit 288 möglichen dermatologischen Erkrankungen. Identifiziert das KI-Modell eine Erkrankung, erhält der Nutzer maßgebliche, dermatologisch überprüfte Informationen, einschließlich Antworten auf Fragen zu Symptomen, Ansteckung und Behandlungen. Google hat das Modell mit anonymisierten Daten trainiert, die bisher rund 65.000 Bilder und Falldaten umfassen. Zusätzliche wurden Vorkehrungen getroffen, um anonymisierte Daten aus mehreren Quellen und Standorten zu beziehen und möglichst mit einer Vielzahl von Kliniken und Beratern zusammenzuarbeiten. Die ständige Herausforderung für diese Art von medizinischer App besteht jedoch darin, genügend dermatologische Fälle von einer Vielzahl von Menschen zu erfassen. Der Staat North Carolina hat mit Hilfe von KI ein COVID-19 Modell entwickelt mit dem die Gesundheitsbehörden des Bundesstaates den Verlauf des Virus sowie andere potenzielle Ausbrüche von Infektionskrankheiten vorhersagen und auf dessen Basis die Verteilung von Impfstoffen optimiert werden konnte.

KI wird häufig als „die“ neue Lösung in Wissenschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt angesehen. Gibt es auch Grenzen für KI? Wenn ja, welche?

Prof. Dr. Dr. med. univ. Arkadiusz Miernik, Geschäftsführender Oberarzt des Universitätsklinikums Freiburg, sagte einst “Datenschutz ist die Todesursache Nr. 1 in Deutschland”. In Deutschland geht es aktuell vor allem um die Kontrolle und Speicherung der Daten. Würde man stattdessen das Potenzial der Daten betrachten, könnten diese Daten genutzt werden um die eigene Gesundheit zu schützen. Ziel ist es hierbei nicht, die Kontrolle über die Daten zu verlieren sondern wichtige Erkenntnisse aus diesen zu gewinnen. Die Datenhaltung kann dabei trotzdem nach deutschen Standards erfolgen. Die Cloud gilt weltweit als der effektivste, agilste und skalierbarste Weg zur digitalen Transformation und zur Steigerung der Wertschöpfung. Es ist ein entscheidender Katalysator für das Wachstum und gilt als Innovationsmotor. Dieses Potenzial sollte auch die deutsche Gesundheitsbranche erkennen, jedoch anhand nationaler Bedingungen, die wichtige Anforderungen an Sicherheit, Datenschutz und digitale Souveränität erfüllt ohne Kompromisse bei Funktionalität oder Innovation einzugehen. Die großen Herausforderungen der Gesundheitsbranche in Bezug auf eine datengetriebene und patientenzentrierte Zukunft werden nur mittels einer soliden Datenbasis (Qualität), eines großen anonymisierten (mindestens nationalen besser EU-weiten) Datenpools sowie fortschrittlichen KI-Modellen lösbar sein. Dies umfasst auch die Verknüpfung medizinischer Systeme, um ein holistisches Bild des Patienten zu erlangen und eine nahtlose Behandlung zu ermöglichen. Eingeschlossen sind niedergelassene Ärzte, lokale Krankenhäuser, die kommunale Gesundheitsversorgung aber auch Sozialdienstleistungen unabhängig von den Systemen, die sie im Einsatz haben. Aktuell gilt in Deutschland der Prozess der Datenanonymisierung bereits als Datenverarbeitung und verletzt damit die Grundlagen des Datenschutzes besonders sensibler Daten zu denen Gesundheitsdaten zweifelsohne gehören. Hinzu kommen Auflagen durch die verschiedenen Landeskrankenhausgesetze, die somit nationale Lösungen ausbremsen. Künstliche Intelligenz profitiert wie kein anderer Ansatz von der Menge verfügbarer Daten und die großen Herausforderungen der Medizin lassen sich am ehesten mit KI lösen (siehe AlphaFold 2). Die innovationserdrückenden Regulatorik in Deutschland erstickt jedoch viele Initiativen bereits in der Gründungsphase. Aber auch KI hat seine Grenzen. Insbesondere dann, wenn die Ursprungsdaten verzerrt oder von schlechter Qualität sind. Daher ist es von zentraler Bedeutung Trainingsdaten eingehend zu prüfen, um algorithmische Verzerrungen und Fallstricke aufzudecken. Diese können aus Datensätzen mit Verzerrungen bei der Stichprobenauswahl entstehen – beispielsweise aus einem Krankenhaus, das Patienten mit einem bestimmten sozioökonomischen Hintergrund aufnimmt, oder aus medizinischen Bildern, die mit einem bestimmten Gerätetyp oder Kameramodell aufgenommen wurden. Algorithmen, die mit Verzerrungen bei der Stichprobenauswahl trainiert wurden, versagen typischerweise, wenn sie in Umgebungen eingesetzt werden, die sich ausreichend von denen unterscheiden, in denen die trainierten Daten erfasst wurden. Verzerrungen können auch aufgrund von Klassenungleichgewichten entstehen – wie es typisch für Daten im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten ist – die die Leistungsfähigkeit trainierter KI-Modelle für Diagnose und Prognose beeinträchtigen. Und KI-gesteuerte diagnostische Hilfswerkzeuge, die sich auf historische Daten stützen, würden normalerweise keine neuen Phänotypen erkennen, wie z. B. die von Patienten mit Schlaganfall oder Krebs, die Symptome der COVID-19 aufweisen. Darüber hinaus sollte sicher nicht verschwiegen werden, das von wertvoller Einsatz von Technologie auf einer langfristigen Transformation der Kultur in der Gesundheitsbranche fußt. Hierzu bedarf es der Bausteine Technologie, Menschen und Prozesse, welche im Dreiklang die Basis für einen stetigen Wandel im Unternehmen und der Gestaltung nachhaltiger organisatorischer Veränderungen dienen. Erst wenn alle drei Bausteine im gleichen Maße adaptiert worden sind, lassen sich etablierte Grenzen überwinden.

Google hat einen KI-Sprachassistenten entwickelt, der „mit menschlichen Leistungen mithalten kann“ – Was bedeutet das?

Die Entwicklung von Sprachassistenten hat bei Google eine lange Tradition und es existieren inzwischen etliche Produkte mit unterschiedlichen Zielen. Der “Google Assistent” ist der vielleicht bekannteste, da er auf jedem Android Smartphone, Nest Endgeräten uvm. zu finden ist. Im Mai 2018 hat Google auf der Entwicklerkonferenz der Google I/O „Duplex“ vorgestellt. Eine KI führte einen Telefonanruf bei einem Friseursalon durch, um eine Terminvereinbarung vorzunehmen. Ziel von Google ist es, die Sprache der KI so natürlich wirken zu lassen, dass das Gegenüber nicht mehr erkennt, dass es sich beim Anrufer um eine Maschine handelt. Dazu werden von der KI u. a. Denkpausen, absichtliche Ungenauigkeiten und Laute wie „aha“ und „hmm“ etc. eingefügt, wodurch die KI menschlich klingen soll. Im Mai 2021 wurde schließlich LaMDA vorgestellt. LaMDA - das steht für Language Model for Dialog(ue) Applications - ist das neueste neuronale Sprachmodell und wurde auf menschliche Dialoge trainiert, sodass es in der Lage ist, sich an offenen Gesprächen zu beteiligen. Ziel ist es, dass die Antworten und Dialoge von LaMDA „sinnvoll, interessant und kontextspezifisch“ sind. Das System erlangte vor kurzem weltweite Aufmerksamkeit, als ein beteiligter Entwickler medienwirksam erläuterte, dass der Chatbot ein gewisses Verständnis für soziale Beziehungen gezeigt habe und seiner Einschätzung nach empfindungsfähig sei.

Wenn Sie die Chancen hätten, für sich selbst eine perfekte KI zu bauen (technische Grenzen ausgeklammert), welche Funktionen hätte diese?

Ich lebe in einer hochtechnisierten Welt und arbeite jeden Tag mit den ausgefeiltesten Systemen, die manchmal über Nacht völlig neue Dinge beherrschen. KI Systeme gehören bereits zu meinem Alltag, sie unterstützten mich bei der Terminfindung mit einem Kollegen, schreiben mir Zusammenfassungen verpasster Gruppenchatverläufe und können sogar fuer mich in die Zukunft schauen. So erinnert mich ein intelligentes System, wenn es Zeit ist für einen Termin aufzubrechen und zwar nicht auf Basis des aktuellen, sondern auf Basis des zu erwartenden Verkehrsaufkommens. Ein perfektes KI System übernimmt für mich repetitive Aufgaben, vereinbart Termine auch außerhalb von Google, beantwortet gerne auch eMails zu Fragen, dessen Antworten bereits existieren. Ansonsten lasse ich mich gerne überraschen, was KI fuer mich alles lösen kann, von dem ich bis heute noch gar nicht wusste, dass ich es brauchen würde.

Künstliche Intelligenz, Google, Dr. Stefan Ebener

Dr. Stefan Ebener

Dr. Stefan Ebener ist ausgebildeter Data Scientist und hat nach seinem Studium des Systems Engineering (B.Sc.) und IT-Management (M.A.) seine Doktorarbeit in Business Administration und Business Analytics mit Summa cum Laude abgelegt. Er arbeitete mehrere Jahre im Consulting und Management bei Hewlett-Packard, Pillar Data Systems und NetApp. 2018 baute er für Google das EMEA weite Machine Learning Specialist Team auf und verantwortet seit 2020 als Head of Customer Engineering den Financial Service Bereich. Nebenbei arbeitet er als freiberuflicher Dozent an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management und ist Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für marktorientierte Unternehmensführung. Zudem ist er Keynote Speaker, Autor und Startup-Mentor.

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Johanna Vogel

Verfasst von Johanna Vogel

Johanna Vogel studiert im Master Kommunikationswissenschaft und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen. Bei dermanostic arbeitet sie in den Bereichen Presse und Kommunikation. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Themen Digitalisierung, eHealth und asynchroner Kommunikation und deren Bedeutung für Arzt und Patienten.