zurück zur Übersicht

Magazin

Digitale medizinische Self Care als Zukunft der Medizin?

Interview mit Dr. Anne Latz, M. Sc.

Digitale medizinische Self Care als Zukunft der Medizin?

Johanna Vogel  07.02.2023

Die Medizinbranche ist im Wandel. Die Digitalisierung hat das Potenzial, unsere Gesundheit nachhaltig zu beeinflussen und zu verbessern, da sie zeitliche und räumliche Begrenzungen aufhebt. Es werden stetig neue Apps und Technologien entwickelt, die uns im Alltag unterstützen sollen – auch in unserer Gesundheit. Eine dieser Innovationen ist HELLO INSIDE. Im Interview mit einer der Gründerinnen, Dr. Anne Latz, sprechen wir über die Bedeutung von datenbasierter ‘Self Care’, wie HELLO INSIDE funktioniert und was sie sich für die Medizin der Zukunft wünscht.

Frau Dr. Latz, Sie sind Ärztin und Mitgründerin von HELLO INSIDE. Was genau ist HELLO INSIDE?

HELLO INSIDE verbindet Innovation mit wissenschaftlich fundierter ‘Self Care’. Wir alle sind einzigartig. Jeder Körper reagiert anders auf Lebensstilfaktoren wie beispielsweise Ernährung und Bewegung. Das nennt man Bioindividualität. Doch die wenigsten wissen, was genau das eigentlich für ihren Alltag und ihre Gesundheit bedeutet. Hier wollen wir unterstützen: Durch die Verbindung von Biosensoren mit smarter digitaler App können wir die “inneren” Werte sprechen lassen. Und zwar die live im “wahren Leben” erhobenen Daten.

Ganz konkret nutzen wir dazu einen Biosensor, der rund um die Uhr und in Echtzeit Glukosewerte - unseren Blutzucker - misst. In Verbindung mit der HELLO INSIDE App können die Nutzer:innen individuelle Muster erkennen und Zusammenhänge mit dem Lebensstil und Gewohnheiten aufdecken. Ziel ist kurz- sowie langfristig ein möglichst “normal-niedriger” und stabiler Glukosespiegel, mit wenigen steilen Kurven. HELLO INSIDE bedeutet, dass Jede und Jeder datenbasiert und selbstwirksam lernen kann, den eigenen Körper und seine Signale zu verstehen. Unsere mutige Vision lautet ‘Scientific Self Care for Everyone’.

Wie funktioniert die Kombination aus Gesundheitsforschung, Biosensoren und Softwarealgorithmen und wie zuverlässig können dadurch medizinische Werte widergespiegelt werden?

Fest steht: Die beste Empfehlung für meinen Körper kann ich aus meinen eigenen individuellen Bio- und Lebensstildaten ableiten. Dazu nutzen wir die Erfassung von ‘Events’ rund um Ernährung, Bewegung, Stress und mehr, die wir mit dem Glukoselevel in Zusammenhang setzen. Wir wollen aber nicht einfach zahlreiche Daten und neue Scores generieren, sondern Alltagsnähe für die Nutzer:innen ermöglichen. Gezielte, angeleitete Experimente (z.B. Nudeln vs. Reis, Apfel vs. Banane, kurzer Spaziergang vs. keine Bewegung nach dem Mittagessen) helfen dabei, Reaktionen des Blutzuckers bildlich gegenüberzustellen. Diese Aha-Erlebnisse bestehen ab Tag eins der Nutzung. Dazu kommt, dass kleine Veränderungen in der Reihenfolge oder Kombination von Nahrungsmitteln direkt ausprobiert werden können. Ergänzend hat unser Expertenteam basierend auf aktuellstem Forschungsstand einfach zu konsumierende Lernprogramme entwickelt. Diese helfen dabei, die Reaktionen des Blutzuckers überhaupt zu verstehen - denn oft sind diese zunächst kontraintuitiv, z.B. bei Fruchtsmoothies oder Sojasoße. Die Verhaltenspsychologie spielt hier eine große Rolle. Ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse, dass generische Empfehlungen oder Verbote in der Ernährung wenig sinnvoll und erfolgsvorsprechend sind.

Die Datengüte der Messwerte nimmt täglich zu. In seiner Historie ist der Biomarker zur Glukosemessung insbesondere für den Bereich “kranker” Menschen erforscht worden. Doch die Grenze zwischen “gesund” und “krank” ist oft fließend. Wir arbeiten mit eigenen Studien daran, hier Evidenz zu schaffen, dass gerade bei “Gesunden” Glukosestabilität im Tagesverlauf ein wichtiger Marker für die Gesundheit, das Wohlbefinden, das Gewichtsmanagement und der Vorbeugung von Krankheiten ist.

Welchen Effekt hat ein besseres Verständnis vom eigenen Körper auf die Gesundheit?

Motivation! Ich nenne das Wissen, das wir uns über datenbasiertes Lernen aneignen gerne ‘Body Intelligence’ - Körperintelligenz. Je länger man einen Sensor trägt und sich im Alltag beobachtet, desto besser entwickeln sich die Messfühler des eigenen Körpers. Das zu Erkennen macht Spaß und ist nachhaltig. Denn so lernen wir unserem Körper wieder mehr zu vertrauen und auf seine Signale zu hören.

HELLO INSIDE klingt nach der Zukunft der Medizin. Ist Digitalisierung und Technik oder die Selbstüberwachung wichtiger für eine gute Gesundheitsversorgung?

Wir glauben ganz fest: Es ist immer ein Zusammenspiel von technischer Innovation und selbstwirksamer Personalisierung. Die digitalen, technischen Elemente geben uns das Handwerkszeug, bioindividuelle Insights überhaupt in Echtzeit sammeln zu können. Sensoren und Tracker helfen hier ungemein, mit wenig Aufwand eine gute Datenbasis zu schaffen. Kriegsentscheidend ist es dann jedoch, diese erhobenen Werte zu übersetzen und für Nicht-Expert:innen jeden Tag nutzbar zu machen. Durch einfache Handhabbarkeit, verständliche Erklärung und Sprache. Ziel ist es, basierend auf diesen eigenen Daten, realistische Schritte für eine gesundheitsfördernde Verhaltensänderung  aufzuzeigen. Das ist viel intuitiver und auch einfacher, als sich auf einmalige Biomarker wie beispielsweise eine Blutabnahme oder auf Trends und Diätempfehlungen à la ‘one size fits all’ zu stützen.

Glauben Sie, dass HELLO INSIDE das Potenzial hat von Ärzten und Krankenhäusern verwendet zu werden?

Die Versorgung bietet enormes Potential für den Einsatz datenbasierter, personalisierter Empfehlungen. Für uns besteht der erste Schritt jedoch in der Gesundheitsförderung und Prävention. Das Gebiet der metabolischen Gesundheit, auf das Glukosestabilität einzahlt, hat bei Behandler:innen momentan aus einer vorbeugenden Perspektive nur wenig Raum. Wir brauchen innovative Gesundheitsunternehmen wie HELLO INSIDE, um für den Einzelnen oder die Einzelnen das Verständnis der Glukosewerte und ihrer Dynamik zu steigern. Aufmerksamkeit zu schaffen. Wir wollen nicht nur kurzfristig das Wohlbefinden der Nutzer:innen steigern. Sondern auch zur Bekämpfung der Pandemie des Übergewichts und der “Wohlstandserkrankungen” beitragen. Entlang der sechs Säulen der Lebensstilmedizin (das sind: Ernährung, Bewegung, Stressmanagement, Schlaf, Noxenkonsum, soziale Beziehungen) gibt es für viele Menschen Handlungsbedarf. Hier ist enormes Potential, durch Verständnis und Stabilisierung des eigenen Blutzuckers anzusetzen.

Was wünschen Sie sich für die medizinische Entwicklung?

Dass Prävention endlich “sexy” wird. Denken wir an unsere Vision: Vor allem bis zum ‘For Everyone’ ist es noch ein weiter Weg. Genau vor der Herausforderung stehen viele digitale und präventive Unternehmen. Denn zuerst erreichen wir mit Innovationen immer die Menschen, die zahlungsbereit, offen für daten- und technologiebasierte Ansätze sind und bestmöglich zum Erhalt ihrer Gesundheit beitragen wollen. Wir müssen den Anspruch haben, zusammen mit Expert:innen und Behandler:innen aus der Praxis genau die zu erreichen, die wir aufgrund von Bildungsstand, Einkommen, Lebensort gerade noch viel zu weit abhängen. Die Frage beim Zugang zu Innovation in der Gesundheit sollte nicht mehr sein: Kann ich mir gute Gesundheit und Lösungen wie HELLO INSIDE leisten, sondern: Brauche ich sie?

Anne Latz

Dr. Anne Latz, M.Sc.

ist Ärztin mit einem Hintergrund in Public Health und einer Passion für Prävention. Dies zeigt sich bereits an ihrer Doktorarbeit, die sie über das gesunde Altern des Gehirns schrieb. Sie ist Mitgründerin und Chief Medical Officer bei HELLO INSIDE einem digitalen Scientific Self Care Unternehmen. Neben ihrem Abschluss in Medizin hat sie einen Masterabschluss in Business Administration. Nach ihrem Studium war sie Stipendiatin an der Harvard Medical School und hat die Weiterbildung in Lifestyle Medicine in Großbritannien absolviert.

Du hast Fragen, Themenvorschläge oder möchtest einen Gastbeitrag in unserem Journal verfassen?

Wir freuen uns über Deine Anregungen und Ideen!

Spreche uns an.

Redaktionsteam kontaktieren
Teambild
Johanna Vogel

Verfasst von Johanna Vogel

Johanna Vogel studiert im Master Kommunikationswissenschaft und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen. Bei dermanostic arbeitet sie in den Bereichen Presse und Kommunikation. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Themen Digitalisierung, eHealth und asynchroner Kommunikation und deren Bedeutung für Arzt und Patienten.